Ende der 1950er Jahre stellt C. P. Snow die provokante These auf, wonach Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften nicht miteinander sprechen können. Wir sprachen dazu mit dem Anglisten Johann N. Schmidt.
Johann N. Schmidt, emeritierter Professor für Englische Philologie der Universität Hamburg, studierte Anglistik, Romanistik und Germanistik und gilt aus ausgezeichneter Kenner der Geschichte Großbritanniens nach dem zweiten Weltkrieg. Mit ihm sprachen wir über C. P. Snows berühmte These im Spannungsfeld von Kunst, Kultur und Wissenschaft.
Lieber Herr Schmidt, Charles Percy Snow, besser bekannt als C. P. Snow, war ein britischer Wissenschaftler und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der nachhaltige Bekanntheit durch die These der „Zwei Kulturen“ erlangt hat. Was hat es damit auf sich?
Die These bezieht sich auf eine Rede, die C. P. Snow im Mai 1959 an der Universität Cambridge gehalten hat. Snow war britischer Physiker, Wissenschaftsadministrator und damals an besagter Universität Cambridge angestellt. Seine Rede sollte tatsächlich über viele Jahre sehr leidenschaftlich in Großbritannien und darüber hinaus diskutiert werden. Sie trug den vielsagenden Titel: Die zwei Kulturen und die wissenschaftliche Revolution. Diese Rede erschien sodann im Druck, eine sehr polemische Streitschrift, die sich auch sehr plakativer Thesen bedient. Und ihre These besteht im Wesentlichen darin, dass sich eine immer unüberbrückbarere Kluft zwischen zwei Kulturen gebildet habe. Diese Kluft betrifft auf der einen Seite die Geisteswissenschaften (und damit verbunden die Literatur- und Kunstwissenschaften), und auf der anderen Seite die technischen Wissenschaften und Naturwissenschaften. Und ein Dialog zwischen diesen beiden Wissenschaften (oder kulturellen Gebieten) sei unter den gegebenen Voraussetzungen nicht mehr möglich. Großbritannien präsentiert sich als eine alternde Gesellschaft, die sich im Namen eines falschen Traditionsbegriffs vehement gegen den Fortschritt wendet, und damit auch den Anschluss an die Gegenwart verliert. Das war im Wesentlichen die These von C. P. Snow.
Also ist C. P. Snows These weniger erkenntnistheoretischer, sondern vielmehr forschungspolitischer Art?
Richtig. Wichtig ist, den historischen Kontext zu skizzieren. Die These entstand in Großbritannien in einer Zeit der Entstehung der Polytechnischen Schulen und auf technische Ausbildung bedachten Colleges, die auf einen reformerischen Pragmatismus eingestellt waren. Im Gegensatz zu den Universitäten mit ihren Literaturwissenschaftlern. C. P. Snow wollte, dass die Nation technologisch und ökonomisch durch eine naturwissenschaftliche Revolution vorangebracht wird. Und eben diese Teilnahme am Fortschritt der Menschheit sei Großbritannien durch die Vertreter einer literarisch geprägten Kultur verwehrt.
Wie wurde C. P. Snows These rezipiert?
Es gab einen lauten Knall. Die These wäre vielleicht gar nicht so bekannt geworden, wenn es nicht eine ganz scharfe Gegenpolemik von dem Literaturwissenschaftler F. R. Leavis gegeben hätte. Er hat damit eine ganz heftige Debatte entfacht. Leavis war einer der führenden Literatur- und Kulturwissenschaftler des Landes. Er sah seine Funktion als streitbarer Bewahrer einer großen Tradition. Er hat seine strengen Maßstäbe ganz vehement verteidigt und sah sich unverzichtbaren, kritischen Standards verpflichtet. Er selbst pflegte eine Art ›organischen Kulturbegriff‹, der sich von einer ganzheitlichen Lebensauffassung ableitet. Er sah sich damit als einen direkten, polemischen Gegenpol zum Materialismus und der Technikgläubigkeit einer modernen Zivilisation, und stellte seine schöpferische Intuition und seine ästhetischen Vorbilder der These von C. P. Snow entgegen. Er hatte ein missionarisches Sendungsbewusstsein, das ihn gleichsam zu einem sehr gleichrangigen Gegenspieler von Snow machte. Die gesellschaftliche Nützlichkeit von Snows Thesen hat er entsprechend vehement abgelehnt. Ihm ging es um die Bewahrung eines traditionellen Bildungssystems.
Wie ist das heute, ist das Pendel nicht umgeschlagen? Stehen die traditionellen Kulturdisziplinen angesichts einer Innovationsorientierten Technikgläubigkeit nicht mit dem Rücken an der Wand?
Ja, das Pendel ist im allgemeinen Wissenschaftsbetrieb in gewisser Weise umgeschlagen, aber nicht in dem Sinne, dass sich beide Disziplinen (Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften) vehement befehden. Sondern durchaus in dem Sinne, dass sie gleichwertig nebeneinanderstehen können.
Wie gesagt, man muss die These von Snow und die Polemik von Leavis in ihrem historischen beziehungsweise forschungspolitischen Kontext sehen. Harold Wilson, der damals für das britische Premierministeramt kandidierte, hat sodann auf dem Parteitag der Labour Party 1963 eine technisch-wissenschaftliche Revolution versprochen. Diese Revolution wollte er voranbringen mit einem eigens gegründeten Ministerium, dem dann C. P. Snow als Staatssekretär angehörte. Es ist eine Kontroverse, die für mich eigentlich der Vergangenheit angehört.
Welche Position hätte Hermann von Helmholtz bei diesem ›Streit der Kulturen‹ bezogen?
Schwer zu sagen, einerseits war Hermann von Helmholtz neuen Entwicklungen gegenüber stets offen und zugänglich. Andererseits steht er selbstverständlich auch für einen klassischen Bildungskanon. Ich glaube aber, dass reformerische Ansätze bei ihm grundsätzlich Gehör gefunden hätten. Er wäre deshalb bestimmt um Ausgleich bemüht gewesen. Schon allein deswegen, weil Hermann von Helmholtz für Interdisziplinarität eingetreten ist und schon früh forderte, dass die Kulturdisziplinen über alle Grenzen hinweg zusammenarbeiten müssen. Kunst und Wissenschaft spielten für ihn eine gleichermaßen wichtige Rolle im Leben.
Vielleicht kann ich abschließend noch sagen, dass sich auch eine freundliche Beilegung des Snow’schen Konflikts findet, zumindest in dem Roman „Nice Work“ aus dem Jahr 1988 von David John Lodge. In der Geschichte treffen zwei Personen aus den beiden Kulturen aufeinander - der Manager eines Industriebetriebs und eine auf industrielle Romane spezialisierte Geisteswissenschaftlerin - und beide verlieben sich ineinander.
Also eine Paarung der „Two Cultures“ im wahrsten Sinne des Wortes. Nichtsdestotrotz wird C. P. Snow immer mal wieder zitiert. In dem Buch „The Third Culture“ aus dem Jahr 1996, das auf Beiträgen von verschiedenen renommierten Wissenschaftlern besteht, greift der Herausgeber John Brockman die optimistische These von C. P. Snow auf, dass zukünftig eine neue Generation von Wissenschaftlern die Kommunikationslücke zwischen den zwei traditionellen Kulturen schließen würde. Brockman zufolge sei als dritte Kultur insbesondere der Versuch zu sehen, Antworten zu den sogenannten „letzten Fragen“ der Wissenschaft einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Interessant. Was lernen wir daraus? Das Spannungsfeld aus Kunst, Kultur, Geistes- und Naturwissenschaften formt sich immer wieder aufs Neue.
Vielen Dank für das Gespräch.
11.09.2020, Das Interview führte Ilja Bohnet