Two Cultures: C. P. Snows Rede und die Geisteswissenschaften (2024)

Natur- und Geisteswissenschaften lebten in zwei völlig getrennten Kulturen – das kritisierte C.P. Snow vor 60 Jahren in seiner berühmten Rede. Heute ist das anders: Die Kulturen haben sich angenähert. Allerdings ging dabei viel verloren.

Two Cultures: C. P. Snows Rede und die Geisteswissenschaften (1)

«Es sind Mathematiker. Wir reden nicht mit ihnen.» Dies sagte der Rektor der Universität Cambridge, um einen Gast zu beruhigen, der bei einem Dinner mit seinen Kollegen nicht ins Gespräch kam – so jedenfalls berichtete es C.P. Snow in einer Anekdote. Vor genau 60 Jahren hat Snow seine berühmte Rede zu den «Two Cultures» gehalten und das wechselseitige Unverständnis von Humanities und Sciences kritisiert.

Sicherlich kommt dem Problem schlecht miteinander kommunizierender Natur- und Geisteswissenschafter vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Algorithmen gerade wieder eine gewisse Dringlichkeit zu. Doch ein Ausspruch wie der obige wäre inzwischen unmöglich. Heute redet man miteinander oder versucht es zumindest – zwischen den «zwei Kulturen» hat seit Snows Rede eine Annäherung stattgefunden.

Bloss sind dabei nicht beide Seiten im gleichen Masse auf die andere zugegangen: Es sind primär die Geisteswissenschaften, die den Dialog suchten. Sie haben viel getan, um sich im Sinne der anderen «Kultur» zu verwissenschaftlichen – und dabei viel von ihrer eigenen «Kultur» verloren. Wie weit dieses Unterfangen vorangetrieben worden ist, lässt sich anhand von Beobachtungen aus verschiedenen Themenbereichen veranschaulichen.

Beginnen wir bei den Methoden. In den letzten Jahrzehnten war zu sehen, wie die Gesellschaftswissenschaften und die Psychologie ihre philosophisch-geisteswissenschaftliche Seite immer mehr zugunsten einer Konzentration auf quantitativ-empirische Methoden aufgegeben haben. In jenen Wissenschaften, bei denen eine solche Angleichung nicht möglich war, hat man zumindest ein schlechtes Gewissen gegenüber den Sciences entwickelt – und etwa versucht, die Anlehnung des eigenen Denkens an Theorien und Vorbilder auf Methodenstatus zu heben.

Das führte besonders in den 1990er Jahren zu der Manie, irgendwelche (meist poststrukturalistische oder konstruktivistische) Theorien auf den eigenen Forschungsgegenstand «anzuwenden», was natürlich überhaupt keinen Sinn ergab, weil im Rahmen tatsächlicher empirischer Wissenschaften solche «Methoden» eigentlich den Status von Hypothesen gehabt hätten, die dann in der empirischen Arbeit zu überprüfen gewesen wären. Ohne diese Empirie aber wurden die Theorien zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen.

Zwang zum Projektverbund

Ähnlich unangemessen verlief die Angleichung der Finanzkulturen. So ist es zum Beispiel völlig richtig, sündhaft teure Experimente nicht jedem beliebigen Wissenschafter zu genehmigen, sondern Teams von ausgewiesenen Spezialisten zusammenzustellen, die dann einen Antrag einreichen müssen, über dessen Potenzial und letztlich dessen Bewilligung andere Spezialisten zu entscheiden haben. Entsprechende Anträge für Forschungsprojekte in den Geisteswissenschaften sind eine andere Sache, denn die meisten ihrer Höchstleistungen haben die Geisteswissenschaften in ihrer langen Geschichte gerade dort erbracht, wo aussergewöhnliche Denker teils in der Einsamkeit, teils in Verzahnung mit der Lehre arbeiteten.

Gewiss: In manchen Fällen liegt es auch in den Geisteswissenschaften auf der Hand, Projektverbünde zusammenzubringen, Sonderfinanzierungen zu suchen und sich von der Lehre freistellen zu lassen. Doch heute kann man sich dem Imperativ der Projektanträge gar nicht mehr entziehen, ohne einen Reputationsverlust zu erleiden oder die Arbeitslosigkeit zu riskieren, denn schliesslich wird dieser Standard der Sciences in so gut wie jeder Stellenausschreibung eingefordert.

Auch in der Kultur des Verfassens von Aufsätzen und Büchern fallen die vollzogenen Anpassungen für die Geisteswissenschaften wenig vorteilhaft aus. In den empirischen Wissenschaften ist es sinnvoll, Forschungsergebnisse von anderen Spezialisten in sogenannten Peer-Review-Verfahren begutachten zu lassen: Es muss ja überprüft werden, ob die Versuchsaufbauten korrekt waren, die Ergebnisse nicht verfälscht wurden, die Schlussfolgerungen mit den Resultaten der Experimente übereinstimmen.

Auch in den Geisteswissenschaften muss die Qualität gesichert werden – und dafür bieten sich Peer-Review-Verfahren durchaus an. Doch kann das in diesen Fächern kaum mehr als eine Erziehungsmassnahme sein, die mit den Standards vertraut macht. Die höchste Stufe geisteswissenschaftlichen Denkens besteht hingegen darin, Standards auch bewusst brechen zu können, da nur die gewagte und dennoch treffende Reflexion das Denken in der notwendigen Bewegung hält und verhindert, dass man in lähmenden Konsens abgleitet. Hier aber sind Peer-Begutachtungen zum Teil eher schädlich.

An der Öffentlichkeit vorbei

Dies tritt besonders deutlich in der Kultur des Publizierens zutage. Der Ort des geisteswissenschaftlichen Denkens ist der möglichst öffentliche Disput – Peer-Reviewing findet indes im Verborgenen (meist sogar Anonymen) statt und produziert eine fatale Neigung zum Konsens: Wer in den wenigen, besonders elitären und durch hartes Peer-Reviewing gekennzeichneten Zeitschriften veröffentlicht werden will, tritt lieber niemandem auf den Fuss – es könnte ja einer der Reviewer sein.

Alle Kanten und Spitzen, die es dennoch über die Hürde der Aufnahme in solche Zeitschriften schaffen, werden dann im Korrekturverfahren der Review-Vorschläge heimlich abgeschliffen. Das Ergebnis sind erwartungsgemäss meist detailreiche und gelehrte Einzelstudien auf dem Boden des Common Sense der akademischen Community – Studien also, die nur für andere Wissenschafter interessant sind, und zwar solche, die über dasselbe Thema einen ebensolchen Aufsatz schreiben und an ähnlicher Stelle unterbringen wollen.

So wird auch der Umgang mit der Öffentlichkeit zusehends schwierig, der für die Geisteswissenschaften entscheidend ist, da sie ihre gesellschaftliche Relevanz nicht in der technischen Entwicklung, sondern in der öffentlichen intellektuellen Debatte finden. Je mehr man aber fachinterne Resonanz zum alleinigen Kriterium macht, desto stärker wird die Tendenz, sich auf die vermeintlichen Kernkompetenzen zu reduzieren. Langfristig wird man auf diese Weise unfähig, diejenigen grossen Fragen anzugehen, die eine breite intellektuelle Öffentlichkeit umtreiben.

Dieses Problem zeigt sich bereits am Buchmarkt, wo die traditionell geisteswissenschaftlichen Verlage immer weniger in der Lage sind, ein grösseres Publikum zu finden, während in traditionell geisteswissenschaftlichen Themenfeldern die Bestsellerlisten von populärwissenschaftlichen Werken der Sciences angeführt werden. Wenn es darum geht, Kultur zu verstehen, richtet sich die grösste Neugier auf neurowissenschaftliche und evolutionsgeschichtliche Forschung; die Zukunft des Denkens sucht man bei den Codern des Silicon Valley; den Sinn des Lebens in der Genetik.

Interesse am anderen

Dieses Desinteresse der intellektuellen Öffentlichkeit liegt, last, but not least, auch daran, dass die Geisteswissenschaften ihre spezielle Form des Denkens allmählich preisgegeben haben. Die einst vom Kulturwissenschafter Friedrich Kittler ausgerufene «Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften» wurde tatsächlich vollzogen, und zwar gründlicher, als Kittler hätte wollen oder auch nur ahnen können.

Wie vollumfänglich sie gelang, wurde mir neulich klar, als ich mich mit einem Freund unterhielt, einem Coder aus dem Silicon Valley. Er ist der Überzeugung, dass Computer bald Bewusstsein erlangen können. Um ein solches zu entwickeln, sagte er zu meiner Überraschung, seien die Humanities unerlässlich. Im Gegensatz zu den Sciences hätten sie nämlich eine Art des Denkens entwickelt, die für Computer extrem schwer reproduzierbar sei und für Coder wie ihn die eigentliche Herausforderung darstelle.

Er bezeichnete die fragliche Denkform als «weird thinking» und meinte damit das Denken einer Wissenschaftskultur, der er in seinen sehr exakten Heidegger-Lektüren begegnet war; ein Denken, das sich der Präzision des Gespürs widmet, das Subjekt und Objekt des Denkens nicht als voneinander getrennt voraussetzt, das Sinnphänomene im Erleben festmachen kann. Kurz, er meinte das, was Wilhelm Dilthey einst als «Geist» bezeichnet und worauf er die Unterscheidung der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften begründet hatte. Ich sagte ihm lieber nicht, dass gerade solches Denken innerhalb der Geisteswissenschaften inzwischen als unwissenschaftlich gilt.

Es ist heute an der Zeit, den Geisteswissenschaften wieder Geist einzuhauchen. Das könnte gerade auch für die Sciences interessant sein: Schliesslich haben Kollegen aus fremden Disziplinen tendenziell ein grösseres Interesse an Leuten, die etwas können, was sie selber nicht können, als an Leuten, die versuchen, das zu tun, was sie selber können, es aber ob ihres dafür ungeeigneten Gegenstands nicht so recht schaffen. So liesse sich zuletzt auch der Dialog befördern, den P.C. Snow im Sinn hatte. Denn nur dort, wo wissenschaftliche Kulturen unterschiedlich sein dürfen, können die Wissenschaften auch in einen produktiven Austausch treten. 60 Jahre nach Snows Intervention sollte man daher wohl sagen: Two Cultures? Ja, bitte!

Jan Söffner ist Professor für Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen.

Alan Turing und Martin Heidegger im imaginären Gespräch: Welche ihrer beiden Theorien des Denkens hat uns heute mehr zu sagen? Wenn ein selbstfahrendes Auto Heavy Metal hört, gibt es nicht mehr Gas. Das ist positiv, aber auch bezeichnend: Maschinen sind nicht in der Lage, sich auf die sinnliche Welt einzulassen. Gerade darum können sie auch nicht wirklich denken.

Jan Söffner

Wenn die Geisteswissenschaften eine grosse Zukunft haben wollen, müssen sie wieder mehr erzählen Die Geisteswissenschaften sehen sich einem Relevanzverlust ausgesetzt. Das hat auch damit zu tun, dass sie über all ihren Methoden und Analysen das Erzählen vergessen. Dabei wären gute Geschichten in der krisenhaften Gegenwart besonders wichtig.

Jan Söffner

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